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Der Blick zurück

In Venedig scheint die Zeit manchmal stehen geblieben zu sein. Alter Stein, altes Holz, alter Kreuzungspunkt der Kulturen, ein altes Konzept nationaler Pavillons. Gerade hier, inmitten dieser Denkmäler vergangener Zeiten, spürt man das Vergehen der Zeit, das am Selbstverständnis wie an den Fundamenten und Fassaden nagt, besonders. Wie kann der Übergang in die Zukunft gelingen, die Vergangenheit mit der Gegenwart versöhnt werden?

Der Kurator der internationalen Hauptausstellung Adriano Pedrosa teilt dazu die Ausstellung in zwei Teile, einen historischen, und einen zeitgenössischen. Präsentiert werden vor allem Künstler:innen aus dem globalen Süden und queere Künstler:innen. Dieses Mal soll den Außenseitern die Bühne gehören. Viele der nationalen Pavillons folgen Pedrosa dabei. Die ehemaligen Kolonialmächte haben ihre Plattformen in diesem Jahr bevorzugt Künstler:innen indigener Gemeinschaften übergeben. Jetzt sind nicht nur ihre Geschichten dran, sondern vor allem ist das die Chance, die Erzählung in die eigene Hand zu nehmen.

Das ist gut, und doch bleibt die Frage unentschieden, wie diese Lücke zwischen Westen und Süden, zwischen Kanon und Ausgeschlossenem überbrückt werden kann. Beim Gang durch die Ausstellungen ist die Falle der Exotisierung immer in Griffweite. Wir – die Anderen. Vielleicht, weil nie in Vergessenheit gerät, dass hier "Außenseiter" und "Fremde" zu sehen sind. Vielleicht bleibt die Frage aber auch nur für die Westler:innen unentschieden.

Mit dem australischen Beitrag von Archie Moore gewinnt ein Pavillon, in dem koloniale Verbrechen, die auch heute noch wirksam sind, verarbeitet werden. In der Mitte der säulenlosen Halle liegen unzählige Papierstapel auf einer weitläufigen Tischfläche auf, die von Wasser umgeben ist, und so die nähere Einsicht verhindern. Gerade so leserlich sind die Titelblätter. Es sind offizielle Dokumente zu Untersuchungen der Todesumstände von Menschen mit indigener Herkunft in australischen Gefängnissen. Sie machen dort einen überproportionalen Anteil der Häftlinge aus. Die Dokumente zeigen auch, dass bis heute Veränderungen ausstehen.

Ist das ein Denkmal für jüngst zu Tode Gekommene, breitet sich auf den Wänden, bis über die Decke, ein Stammbaum älterer Vorfahren des Künstlers ab. Weit älter - er reicht bis zu 65.000 Jahre zurück, und genügte nicht allein diese Dimension, so irritieren den modern-rationalen Blick zwangsläufig die weitverzweigten Linien zwischen den in Kreide aufgemalten Namen. Familienverhältnisse werden hier anders gedacht. Und Zeit wird anders gedacht. Wie, darüber gibt ein Essay von 1956, The dreaming, vom Anthropologen William Edward Stanner Einblick, auf den verwiesen wird. Die Ruhe, die den Raum beherrscht, die gedämpfte Dunkelheit, die Dimensionen - sie machen aus dem Pavillon ein Monument der Erinnerung, der Trauer, der Gewalt, aber auch der Resilienz.

In diesem Pavillon wird auch eine Arbeit gewürdigt, die das persönliche mit dem kollektiven Erleben (Traumata), verbindet. Ein weiteres, ebenso wirkungsvolles Beispiel dafür, ist der deutsche Pavillon. Während Arbeiten der israelischen Künstlerin Yael Bartana die Nebenräume besetzen, hat Ersan Mondtag im zentralen Raum einen Turm errichtet, in dessen Innerem eine begehbare Wohnung nachgebaut ist. Alles ist von zentimeterdickem Staub bedeckt. Mondtag greift hier auf die Geschichte seines Großvaters zurück, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam und früh starb - wohl in Folge des ungeschützten und andauernden Kontakts zu Asbest, dem er in dem Eternit-Werk, für das er 25 Jahre arbeitete, ausgesetzt war. Der deutsche Wohlstand, das ist sein Fundament. Je mehr man versteht, worin man sich hier gerade befindet, desto bedrückender werden die engen Gänge, desto dicker wird die staubige Luft. Raus! Raus auf die Insel Certosa. Hier haben für Deutschland vier weitere Künstler Soundinstallationen in die Wälder gesetzt, in die Erde eingegraben, zwischen Bambus versteckt. Ein Ansatz von Orientierungslosigkeit - ein Gefühl der Fremde - macht sich breit, so weitgehend allein, auf Wegen gehend, an die mal hier, mal dort, Klangwolken gespült werden, die man dann durchquert oder verfolgt. Und so ganz nebenbei wird so ein bisschen am Konzept Nationalpavillon, vielleicht sogar Grenze, gerüttelt - zumindest in ihrer räumlichen Dimension.

Als Material ist Klang auf dieser Biennale sehr präsent - in Form von Sprache und Musik, als Ausdruck von Identität und Medium, das über Zeit genau wie Raum hinweg verbinden kann. Auch seiner physikalischen Eigenschaft wegen, so an Bewegung gebunden zu sein und alles, was er berührt, in Bewegung zu versetzen. Vielleicht das Material der Stunde, kaum ein Pavillon ist nicht irgendwie auch klanglich gestaltet, immerhin auch die Abwesenheit war ja gerade im australischen Gewinnerpavillon wirksam eingesetzt.

Im polnischen Pavillon läuft ein Film des ukrainischen Kollektivs Open Group, in dem Ukrainer:innen vormachen, wie sich Granaten, Raketen oder Sirenen anhören. Der Titel der Arbeit "Repeat after me" ist Programm: im Raum verteilte Mikrofone und "Lyrics" fordern den Saal heraus, in das Karaoke einzusteigen. Selten trifft der Begriff Todesstille etwas besser.

Auch Anna Jermolaewa für Österreich setzt in verschiedener Weise auf Klang: als Signal (für Regimewechsel in der Sowjetunion, wo tagelang Tschaikowskis Schwanensee zur Beruhigung gespielt wurde), als Kontaktmöglichkeit (siehe die Telefonzellen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen), und als Symbol des Widerstands (siehe die auf Röntgenbilder gedruckten verbotenen Schallplatten). (⤇ Hier geht’s zum artmagazine Bericht über den Österreichischen Pavillon https://www.artmagazine.cc/content129577.html)

Ein enger Verwandter: Geruch. Im koreanischen Pavillon wird fast ausschließlich darauf gesetzt, eine Skulptur im Anbau des ansonsten fast leer belassenen Pavillon stößt hier aus den Nasenflügeln Düfte aus, die Korea olfaktorisch abbilden sollen. Bei Holland riecht es nach Schokolade, ein Verweis auf die koloniale Beziehung Hollands zu den Kolonien. Und natürlich bringt es uns wieder zurück zu Ersan Mondtags Asbestwohnung. Auf pandemiebedingte Atemwegsinfektionen stößt man aber nirgends.

Die Hauptausstellung allerdings ist überschwemmt von Malerei. Anachronistisch? Vielleicht, aber der Ansatz, sich nicht allein auf Neuproduktionen zu verlassen, sondern einen Großteil der Ausstellung mit (oft unbekannten) Positionen des 20. Jahrhunderts zu besetzen, war von Pedrosa im Vorhinein klargemacht worden und ist eigentlich nur konsequent. Einige dieser Arbeiten hätten mehr Zeit verdient, zum Beispiel die von Rosa Elena Curruchich. Das knappe Dutzend Gemälde passt, etwas überspitzt gesagt, in einen Schuhkarton, aber stehen zu bleiben lohnt sich. Curruchich wurde in Guatemala geboren und gehörte zur Gemeinschaft der Maya. Sie portraitierte mit großer Sorgfalt das Leben in dieser Gemeinschaft und man meint, in dieser malerischen Zuwendung die Fürsorglichkeit gespiegelt zu sehen, die in der Gruppe gelebt wurde. Aber auch der Bürgerkrieg und die Gewalt, die gerade Angehörigen indigener Gemeinschaften drohte, spiegeln sich im kleinen Format der Bilder.

Curruchichs Arbeiten sind exemplarisch für vieles, was Pedrosa ausgewählt hat. Zum einen für die Wahl der Malerei als Medium, zum anderen, weil diese Malerei oft in ganz unakademischer Manier gemacht ist, und dabei erfrischend ist, weil sie nie manieriert, nie prätentiös wird. Und drittens zeigen ihre Bilder einen Hang zum Dokumentarischen und Figurativen, der sich durch die gesamte Ausstellung zieht.

Die erste Leseart des Titels "Foreigners Everywhere", der die 60. Biennale von Venedig ziert, wird sehr ausgiebig verfolgt. Fremde (von der westlichen, weißen, heteronormativen Warte aus) beherrschen diese Biennale. Mit der Arbeit "Exile is a hard job" der türkischen Künstlerin Nil Yalter, die neben Anna Maria Maiolino mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, ist eine migrantische Position auch räumlich ins Zentrum des Pavillons in den Giardini gesetzt. 

Die zweite Leseart, die der Titel erlaubt, und die von der namensgebenden Arbeit des Künstlerduos Claire Fontaine angeregt wird, weist auf die Fremdartigkeit sich selbst gegenüber, als sich selbst fremd bleibend oder befremdend. Einer der wenigen Beiträge, die hier ansetzen, ist vielleicht der aus Serbien. Aleksandar Denić hat den Pavillon als Zeitkapsel gestaltet, mit der man in einen postsowjetischen urbanen Raum tritt. Der Westen hat in Form von Coca Cola-Kästen Einzug gehalten und Jukeboxes spielen nur Lieder, die vom Sehnsuchtsort Europa handeln. Man steht zwischen schmuddeligen Telefonzellen und Überwachsungskameras. Und irgendwie auch zwischen den Zeiten. Die Utopie Europa scheint ein Relikt der Vergangenheit und ist an die hinterste Wand gerückt, mit den leuchtenden Lettern von der Szenerie abgewendet, aber sie wurde noch nicht durch eine neue ersetzt.

Am Eingang zum zweiten Teil der Internationalen Ausstellung beim Arsenale begrüßt ein Astronaut in voller Montur von Yinka Shonibare. Auf seinem Rücken trägt er allerlei altes Zeug - Altlasten, wenn man so will. Ein Sinnbild für diese Biennale.

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60th International Art Exhibition
La Biennale di Venezia
noch bis 24. November 2024
⤇www.labiennale.org

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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